Abzugsteuern – und das Rechtsschutzbedürfnis für eine nachträgliche Freistellungsbescheinigung
Sofern die Vergütungsschuldner die Abzugsteuern entsprechend den Vorgaben des § 50a Abs. 4 und 5 EStG einbehalten, angemeldet und an die Finanzämter abgeführt hatten, wäre ein Rechtsschutzinteresse der Klägerin nur gegeben, wenn die nachträgliche Erteilung der Freistellungsbescheinigungen zu einer Änderung der gemäß § 168 AO einer Steuerfestsetzung unter Vorbehalt der Nachprüfung gleichstehenden Steueranmeldungen führen könnte.
Zwar kann eine unter dem Vorbehalt der Nachprüfung stehende Steuerfestsetzung gemäß § 164 Abs. 2 Satz 1 AO geändert werden, solange der Vorbehalt wirksam ist. Jedoch entfällt der Vorbehalt der Nachprüfung, wenn die Festsetzungsfrist abläuft (§ 164 Abs. 4 Satz 1 AO).
Und von einem zwischenzeitlichen Ablauf der Festsetzungsfristen war im hier entschiedenen Fall auszugehen: Die Festsetzungsfrist für die in Rede stehenden Steuern beträgt gemäß § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO vier Jahre. Die Festsetzungsfrist beginnt gemäß § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO in den Fällen, in denen eine Steuererklärung oder eine Steueranmeldung einzureichen oder eine Anzeige zu erstatten ist, grundsätzlich mit Ablauf des Kalenderjahrs, in dem die Steuererklärung, die Steueranmeldung oder die Anzeige eingereicht wird. Da die Abzugsteuern im Jahr 2006 angemeldet worden sind, begann die Festsetzungsfrist mithin mit Ablauf des 31.12 2006 und endete mit Ablauf des 31.12 2010. Zu dem letztgenannten Zeitpunkt sind demnach auch der Vorbehalt der Nachprüfung und die Änderungsmöglichkeit nach § 164 Abs. 2 Satz 1 AO entfallen.
Darüber hinaus ist die Klage auf die Freistellungsbescheinigung in den Fällen unzulässig, in denen die durch Steuerabzug einbehaltenen abgeführten Vergütungen im Rahmen des Erstattungsverfahrens (§ 50d Abs. 1 Satz 2 EStG) bereits erstattet worden sind. Nach Abschluss des Erstattungsverfahrens ginge eine das Abzugsverfahren erster Stufe betreffende Freistellungsbescheinigung ins Leere.
Des Weiteren fehlt es auch in jenen Fällen an einem Rechtsschutzinteresse der Klägerin, in denen diese die Vergütungen zwar erst nach Beantragung der Freistellungsbescheinigungen im September bzw.10.2006 erhalten hat, die Vergütungsschuldner die Abzugsteuern jedoch entsprechend den Vorgaben des § 50a Abs. 4 und 5 EStG einbehalten, angemeldet und an die Finanzämter abgeführt hatten und die in den Steueranmeldungen zu sehenden Steuerfestsetzungen unter dem Vorbehalt der Nachprüfung nicht mehr gemäß § 164 Abs. 2 Satz 1 AO geändert werden können, weil der Vorbehalt der Nachprüfung inzwischen wegen Ablaufs der Festsetzungsfrist entfallen ist.
Für diese Fallgruppe gelten die dargelegten Erwägungen in gleicher Weise. Für die Frage, ob die nachträgliche Erteilung einer Freistellungsbescheinigung noch zu einer Änderung einer als Steuerfestsetzung wirkenden Steueranmeldung führen kann, kommt es vornehmlich auf den Zeitpunkt an, in dem die gesetzlichen Änderungsmöglichkeiten hinsichtlich der Steuerfestsetzung entfallen sind. Das gilt auch, wenn dem Vergütungsgläubiger die (Netto-)Vergütung erst nach Beantragung der Freistellungsbescheinigung zufließt. Der Zeitpunkt des Zuflusses der nach Einbehaltung der Abzugsteuer gezahlten Netto-Vergütung ist insoweit für die Frage des Rechtsschutzinteresses an der Erteilung einer Freistellungsbescheinigung nicht von Relevanz.
Soweit das Finanzgericht Köln in der Vorinstanz ein Rechtsschutzinteresse in dieser Konstellation damit begründet hat, der Erlass der Freistellungsbescheinigung würde zum Wegfall des Rechtsgrunds für die Abführung der Steuer und zur Entstehung eines Erstattungsanspruchs des Vergütungsgläubigers gemäß § 37 Abs. 2 AO führen1, kann der Bundesfinanzhof dem nicht beipflichten. Die Entstehung eines allgemeinen Erstattungsanspruchs nach § 37 Abs. 2 AO würde voraussetzen, dass eine Steuer ohne rechtlichen Grund gezahlt worden ist (Satz 1) oder der rechtliche Grund später wegfällt (Satz 2). An einem Wegfall des Rechtsgrunds für den Steuerabzug fehlt es hier indessen. Denn eine Steueranmeldung, die wie eine Steuerfestsetzung wirkt, die nicht mehr nach § 164 Abs. 2 Satz 1 AO geändert werden kann, hätte als Rechtsgrund für die Einbehaltung und Abführung der Abzugsteuer durch den Vergütungsschuldner auch dann noch Bestand, wenn nachträglich eine Freistellungsbescheinigung erlassen würde.
Aus dem vom Finanzgericht Köln für seine Sichtweise herangezogenen, jedoch in wesentlichen Punkten anders gelagerten BFH-Urteil vom 29.01.20152 ergibt sich nichts Gegenteiliges. Jenes Urteil betraf einen Fall, in dem die (im Wege des Steuerabzugs erhobene) Kapitalertragsteuer vom Schuldner der Kapitalerträge nicht einbehalten, angemeldet und abgeführt, sondern erst aufgrund eines behördlichen Nachforderungsbescheids an das Finanzamt gezahlt worden war. Jenen Nachforderungsbescheid hatte das Finanzamt später jedoch ersatzlos aufgehoben, nachdem nachträglich ein Freistellungsbescheid ergangen war. In dem Urteilsfall hat der Bundesfinanzhof einen Erstattungsanspruch des Gläubigers der Kapitalerträge gemäß § 37 Abs. 2 Satz 2 AO bejaht, weil der den Rechtsgrund für die Steuerentrichtung bildende Nachforderungsbescheid aufgehoben worden war. Im Unterschied zur vorliegenden Konstellation fehlte es im damaligen Urteilsfall an einer als Steuerfestsetzung wirkenden Anmeldung der Abzugsteuer als Rechtsgrund für die Abführung der Abzugsteuer.
Die Erteilung einer Freistellungsbescheinigung gemäß § 50d Abs. 2 Satz 1 EStG, die den Vergütungsschuldner von der Abzugspflicht befreit, wäre auch nicht geeignet, einen Erstattungsanspruch der Klägerin nach § 50d Abs. 1 Satz 2 EStG auszulösen. Hierfür bedürfte es vielmehr eines Freistellungsbescheids gemäß § 50d Abs. 1 Satz 3 EStG, mit dem das BZSt ggf. auf zweiter Stufe im Rahmen des Erstattungsverfahrens abschließend über die Freistellung von der Steuer entscheidet3. Die verfahrensgegenständlichen Anträge der Klägerin beziehen sich ausschließlich auf die Erteilung von Freistellungsbescheinigungen nach § 50d Abs. 2 Satz 1 EStG und nicht auf den Erlass von Freistellungsbescheiden i.S. von § 50d Abs. 1 Satz 3 EStG.
Schließlich wird das Finanzgericht hinsichtlich jener Verfahren, in denen die Abzugsteuer nicht einbehalten, angemeldet und abgeführt worden ist, zu prüfen haben, ob unter Berücksichtigung der maximal möglichen Festsetzungsfristen (§ 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und Satz 2 AO) eine Nachforderung oder Haftungsinanspruchnahme im Prinzip noch denkbar ist4. Wäre das nicht mehr der Fall, würde es auch insoweit an einem Rechtsschutzinteresse für die Verpflichtungsklage fehlen.
Bundesfinanzhof, Urteil vom 25. April 2018 – I R 59/15
- FG Köln, Urteil vom 10.06.2015 – 2 K 2305/10[↩]
- BFH, Urteil vom 29.01.2015 – I R 11/13, BFH/NV 2015, 950[↩]
- s. zur Unterscheidung zwischen Freistellungsbescheinigung und Freistellungsbescheid: BFH, Urteile vom 11.10.2000 – I R 34/99, BFHE 193, 336, BStBl II 2001, 291; in BFH/NV 2015, 950, und Buciek, Internationales Steuerrecht 2001, 102[↩]
- vgl. BFH, Urteil in BFHE 180, 365, BStBl II 1996, 608[↩]